Trudering-Riem

Tempo 30 Regelgeschwindigkeit

Antrag

Der BA15 möge folgenden Beschluss fassen:
Der Oberbürgermeister bewirbt sich für die Landeshauptstadt München beim Bundesverkehrsministerium als Modellkommune für eine Regelgeschwindigkeit von Tempo 30. Nur in ausgewählten, formell begründeten Hauptverkehrsadern soll die Höchstgeschwindigkeit Tempo 50 gelten. Die Landeshauptstadt München folgt damit dem Beispiel der Stadt Freiburg im Dezember 2020 und kommt damit dem einstimmig im Münchner Stadtrat beschlossenen Ziel der Vision Zero (keine Verkehrstoten) einen wichtigen Schritt näher.

Begründung

Die Herabsetzung der Regelgeschwindigkeit auf Tempo 30 ist eine lang bestehende Forderung des Deutschen Städtetags. Die StVO sieht innerörtlich eine grundsätzliche Höchstgeschwindigkeit von Tempo 50 vor – alle Ausnahmen müssen einzeln begründet, geprüft und genehmigt werden. Derzeit kann Tempo 30 nur in sensiblen Bereichen wie Wohngebieten oder Schularealen mit Unfallschwerpunkten oder aus Lärmschutzgründen genehmigt werden. Tempo-30-Zonen sollten sich einheitlich darstellen und sind ebenso zu begründen. Seit 2016 muss vor allen Einrichtungen mit besonders schwachen und verletzlichen Verkehrsteilnehmenden wie Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen kein Unfallschwerpunkt mehr nachgewiesen werden („vorbeugende Schulwegsicherheit“), stattdessen kann standardmäßig für eine kurze Strecke Tempo 30 mit Zeitbegrenzung angeordnet werden. Das Ergebnis in Münchens dichten Stadtvierteln: ein Schilderwald und Flickenteppich der Höchstgeschwindigkeit je nach Straßenseite und Uhrzeit.

Aktuell gibt es über 300 Tempo-30-Zonen in München, sodass bereits 80-85% des Straßennetzes eingeschlossen sind. Feststellung: In einer dichten Stadt wie München mit viel Mischbebauung sind junge und alte Verkehrsteilnehmende sowie reger Fußverkehr und Radverkehr der Regelfall – nicht die Ausnahme. Allerhöchste Zeit, Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit zu machen!

Durch eine Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 ergeben sich viele Vorteile für alle Münchner*innen in den Bereichen, die wie folgt systematisch aufgeführt werden: (1) Verkehrssicherheit, (2) Verkehrsfluss, (3) Verkehrslärm, (4) Luftqualität und Klima, (5) Verständlichkeit und Akzeptanz, (6) Stadtbild, Kosten und Verwaltungsaufwand sowie (7) Fußverkehr und Nachbarschaft.

  1. Verkehrssicherheit: ob es überhaupt zu einer Kollision zwischen Verkehrsteilnehmerinnen kommt hängt häufig von der Geschwindigkeit ab, denn von ihr leitet sich der Bremsweg ab. Der Anhalteweg halbiert sich etwa bei 30 Km/h gegenüber 50 km/h. Wenn es dann zu einer Kollision kommen sollte, hängt die Unfallschwere maßgeblich von der Aufprallgeschwindigkeit ab. Der Unterschied von T30 zu T50 eines Autos beim Aufprall auf eine Fußgängerin entscheidet signifikant über deren Überlebenschance – das Sterberisiko steigt nicht linear, sondern steigt ab ca. 30 km/h rapide an. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder tödlichen Verletzung, wobei ältere Menschen die geringsten Überlebenschancen haben.

    Bei Tempo 30 gibt es also tendenziell weniger Unfälle mit geringeren Folgen. Für die Verwirklichung der Vision Zero ist es daher unerlässlich, die Höchstgeschwindigkeiten an Verkehrsbereichen mit regelmäßigem Fuß- und Radverkehr auf gleichen oder naheliegenden Flächen zu reduzieren. In einer dichten Stadt wie München ist dies der Regelfall. Daher sollte Tempo 30 die Regelgeschwindigkeit sein. Nur auf geschützten, baulich getrennten Verkehrsadern sollen Höchstgeschwindigkeiten über 30 km/h erlaubt sein. Auch der wissenschaftliche Beirat des Bundesverkehrsministeriums, der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) sowie die Verkehrsverbände FUSS e.V., ADFC und VCD sprechen sich deswegen für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit aus.
  2. Verkehrsfluss: die regelmäßig und in kurzen Abständen wechselnden Höchstgeschwindigkeiten in Kombination mit Ampeln führen zu vielen Beschleunigungs- und Abbremsmanövern. An vielen Tempo-50-Strecken gibt es außerdem Stellplätze, was den deutlich langsameren Parksuchverkehr verursacht. All diese Faktoren beeinträchtigen den Verkehrsfluss, denn die Be- und Entschleunigung der vorausfahrenden Verkehrsteilnehmenden wirken sich auf die darauffolgenden Verkehrsteilnehmenden aus. Der kleinteilige Wechsel ist zudem verwirrend und nicht alle Autos beachten diese Regeln – das führt zu größeren Geschwindigkeitsdifferenzen, was den Verkehrsfluss weiter verschlechtert. Bei durchgängigem Tempo 30 ist ein geringerer Sicherheitsabstand zwischen Fahrzeugen notwendig. Dies führt dazu, dass die Sättigungsverkehrsstärke (Fahrzeuge/Stunde und Fahrspur) bei T30 und T50 gleich bleibt. (1)

    Das Umweltbundesamt kommt deswegen zu dem Schluss, dass eine Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h auch innerstädtische Hauptstraßen nicht oder nicht nennenswert in ihrer Funktion beeinträchtigt. Dafür steigt die Homogenität – für die Autofahrerinnen wird der Verkehr fließender, gleichmäßiger und entspannter. In einer Stadt wie München, wo sich fließender Autoverkehr, Parksuchverkehr sowie Radfahrerinnen oft den gleichen Straßenraum teilen, harmonisiert Tempo 30 den Verkehrsfluss.
  3. Verkehrslärm: die in Punkt 2 beschriebenen regelmäßigen Beschleunigungen und Bremsmanöver erzeugen im innerstädtischen Bereich die meisten Lärmemissionen. Bei höheren Geschwindigkeiten entstehen zudem zusätzliche Lärmemissionen. Dies begründet z.T. die nächtliche Geschwindigkeitsreduktionen aus Lärmschutzgründen in manchen Straßenzügen, z.B. vor Krankenhäusern. Begleitunter-suchungen an Hauptverkehrsstraßen zeigen den nach einer Tempo-30-Anordnung um 1 bis 4 dB(A) niedrigeren Mittelungspegel, wobei besonders die Maximalpegel und die Pegelschwankungen sinken. (2)
  4. Die Reduktion dieser störenden Einzelereignisse, z.B. scharfes Abbremsen bei roter Ampel oder schnelles Anfahren, ist besonders wichtig für Gesundheit und Schlafqualität. Fazit: die Lärmkulisse wird leiser und gleichmäßiger. Eine flächendeckende Regelgeschwindigkeit von 30 km/h würde dazu führen, dass Münchens Anwohnerinnen und Fußgängerinnen tagsüber wie auch nachts weniger unter den Verkehrslärm leiden, der durch starkes Bremsen und Beschleunigen sowie hohe Fahrgeschwindigkeiten entsteht.
  5. Luftqualität und Klima: wenn sich aus den in (2) genannten Gründen der Verkehrsfluss verbessert und v.a. das Bremsen und Beschleunigen abnimmt, entstehen weniger Abgase, Aufwirbelungen, Reifen- und Bremsabriebe. Auch werden die Straßenbeläge weniger beansprucht. Insgesamt sinken vor allem die Schadstoffe Stickstoffdioxid (NO2), Feinstaub (PM10) und elementarer Kohlenstoff (EC) (3). Durch die Reduktion von Geschwindigkeit und Beschleunigungen sinkt ebenso der Spritverbrauch. Zusätzlich stärkt die Verkehrsberuhigung die Attraktivität des Radverkehrs, was die klimafreundliche Wirkung der
    Regelgeschwindigkeit Tempo 30 indirekt verstärkt (4). Hierbei gilt es zu erproben, wie der ÖPNV trotz neuer Regelgeschwindigkeit beschleunigt werden kann, ebenso sind für den schienengebundenen ÖPNV Ausnahmen zu ermöglichen.
  6. Verständlichkeit und Akzeptanz: eine durchgängige Regelgeschwindigkeit von T30 ist deutlich verständlicher für Verkehrsteilnehmende und leichter umzusetzen als der derzeitige Schilderwald und Flickenteppich je nach Straßenhöhe, Straßenseite und Uhrzeit. Dies stört und irritiert viele Autofahrerinnen, ebenso führt es zu mangelnder Geschwindigkeitsanpassung und Kontrolle der Tempo-30-Beschränkungen, die so wichtig sind für die Sicherheit von Kindern und Seniorinnen. Mit der neuen Regelgeschwindigkeit wäre allen klar: in München gilt grundsätzlich rund um die Uhr Tempo 30. Die Ausnahmen wären wenige und durch ihre Bauweise deutlich anders gestaltete Straßen, z.B. am Mittleren Ring. Auch Geschwindigkeitsmessungen wären deutlich einfacher – derzeit sind diese bei den kurzen Streckenabschnitten z.B. vor Schulen schwer möglich.
  7. Stadtbild, Kosten und Verwaltungsaufwand: in München gilt bereits in 80-85% des Straßennetzes Tempo 30 – mindestens für diesen Großteil des Straßennetzes bräuchte es keine Beschilderungen und Markierungen zur Höchstgeschwindigkeit mehr. Als der Kreisverwaltungsreferent Blume-Beyerle (parteilos) 2011 die Regelgeschwindigkeit Tempo 30 vorschlug, wurde berechnet, dass sich dadurch die Anzahl der Verkehrsschilder von 12.000 auf 4.000 dritteln würde. (5)
    Was anfangs mit Kosten für die Neuordnung und Umplanung verbunden wäre, würde sich über die gesunkene Anzahl der Schilder amortisieren, denn alle Schilder und Markierungen bedürfen regelmäßiger Wartung und Erneuerung. Das Stadtbild und insbesondere die Fußgänger*innen würden profitieren, stehen doch die 12.000 Schilder vielerorts auf oder an den Gehwegen. Die Verwaltung müsste nicht mehr den Großteil der Straßen auf ihre formale/gesetzliche Eignung für Tempo 30 prüfen, sondern nur noch wenige Verkehrsadern auf die formale Eignung für Tempo 50. Die Beweispflicht würde sich umdrehen und deutlich weniger Aufwand erfordern.
  8. Fußverkehr und Nachbarschaft: schnell befahrene Straßen schlagen Schneisen durch Viertel und Nachbarschaften. Für nachbarschaftliche Beziehungen, insbesondere zwischen gegenüberliegenden Straßenseiten, ist geringer und langsamer Verkehr notwendig. Donald Appleyard zeigte bereits 1981 mit dem verkehrswissenschaftlichen Klassiker „Lebenswerte Straßen“, dass sich Menge und wahrgenommenes Gefahrenpotenzial von motorisiertem Verkehr in einer Straße auswirkt auf das Nachbarschaftsgefühl, Häufigkeit und Art von Aktivitäten, Aufenthalt und Gesprächen auf dem Gehweg sowie die Identifikation mit dem Wohnort. Dies wird bis heute regelmäßig empirisch belegt, auch mit Bezug auf Tempo-50- und Tempo-30-Straßen (6).

    Eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h kann große Vorteile für die Nachbarschaft, den Fußverkehr und die Aufenthaltsqualität an vielen Straßenecken und straßennahen Plätzen haben. Nachbarinnen könnten sich beim Plausch besser hören, bessere Luft atmen, besser die Straßenseite wechseln und mehr Kontakte zur anderen Nachbarschaft knüpfen. Ihre Kinder könnten sich durch die verbesserte Verkehrssicherheit freier bewegen und. Der Fußverkehr würde profitieren – und davon profitiert das ganze Viertel, den Fußgängerinnen bringen Geselligkeit und erhöhen das Sicherheitsgefühl (vgl. „Augen auf der Straße (7)“.

    Eine nachhaltige, flächendeckende Beruhigung und Harmonisierung des Verkehrs hätten positive Effekte auf die Lebensqualität der Menschen, ihre Gesundheit sowie den nachbarschaftlichen Zusammenhalt im Bezirk.
  9. Die Bevölkerung fordert regelmäßig die Entschleunigung im Straßenverkehr: Regelmäßig bei BA-Sitzungen und Bürgerversammlungen steht das Thema Entschleunigung des Kfz-Verkehrs auf der Tagesordnung. Bei jeder BA-Sitzung und Bürgerversammlung werden aus den oben genannten Gründen Verkehrssicherheit, Unfallprävention und Lärm zahlreiche Anträge auf Geschwindigkeitsreduzierung, Geschwindigkeitskontrollen, Bodenmarkierung T30, bauliche Schikanen, Durchfahrverbot für LKW u.v.m. gestellt. Bürgeranträge auf höhere Geschwindigkeit oder Auflösung von T30-Straßen oder -Zonen sind den Antragstellern schon seit vielen Jahren nicht mehr bekannt.

    Der Trend in der Bevölkerung ist eindeutig und fordert die politisch Verantwortlichen endlich zum Handeln auf. Der Deutsche Städtetag sucht derzeit Modellkommunen, die sich auf Landesebene und Bundesebene dafür einsetzen, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit mit der Ausnahme ausgewählter Hauptverkehrsadern zu erproben. Freiburg hat dies Anfang Dezember 2020 getan. Auch die neue Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, Maike Schäfer (Grüne) aus Bremen, will sich in ihrer Amtsperiode für die Regelgeschwindigkeit von Tempo 30 innerorts einsetzen. Die Chancen stehen gut, dass München als drittgrößte Stadt in Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Erprobung der Regelgeschwindigkeit Tempo 30 leisten kann: für die Vision Zero, für das Klima und für eine menschenfreundliche Stadt.

    (1) S. 5, Heinrichs, E., Scherbarth, F., & Sommer, K. (2016). Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen. Publikation für das Umweltbundesamt. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/wirkungen-von-tempo-30-an-hauptverkehrsstrassen
    (2) S. 13, Heinrichs, E., Scherbarth, F., & Sommer, K. (2016). Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen. Publikation für das Umweltbundesamt. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/wirkungen-von-tempo-30-an-hauptverkehrsstrassen)
    (3) S. 15, Heinrichs, E., Scherbarth, F., & Sommer, K. (2016). Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen. Publikation für
    das Umweltbundesamt. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/wirkungen-von-tempo-30-an-hauptverkehrsstrassen
    (4) https://www.adac.de/-/media/pdf/vek/fachinformationen/urbane-mobilitaet-und-laendlicher-verkehr/tempo30pro-contraadac-bro.pdf
    (5) https://www.ris-muenchen.de/RII/RII/DOK/SITZUNGSVORLAGE/2346704.pdf, https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/tempo-30-ueberall-abgeschmettert-art-143901
    (6) Z.B. Sauter, D., & Hüttenmoser, M. (2006). Integrationspotenziale im öffentlichen Raum urbaner Wohnquartiere. Zürich, Urban Mobility Research & Dokumentationsstelle“ Kind und Umwelt, http://www.kindundumwelt.ch/de/_files/NFP51MOSchlusszusammenfassung.pdf; siehe auch Jan Gehl (2010) Städte für Menschen.
    (7) Jane Jacob (1961) Tod und Leben großer Amerikaner Städte. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-10438-2_22 Aktivitäten im öffentlichen Raum, Erwachsenenbefragung N = 365 (Quelle und Grafik: Sauter & Hüttenmoser 2006)

Unser Antrag im RIS (Verlinkung sobald Link vorhanden)

Dieser Antrag wurde in der BA-Sitzung am 25.02.2021 von CSU, SPD, FW und FDP wegen "fehlendem Ortsbezug" nicht zur Diskussion im BA zugelassen. Die ÖDP hat unseren Antrag unterstützt.